Erinnern heißt Verantwortung heute
Wie trägt man Verantwortung in einer Zeit, in der Zeitzeugen des Holocausts sterben, Rassismus wieder lauter wird und junge Menschen auf TikTok mehr lernen als im Geschichtsunterricht? Diese und andere Fragen standen im Mittelpunkt einer eindrucksvollen Gesprächsrunde im Jungen Theater Leverkusen, zu der am vergangenen Mittwoch das Landrat-Lucas-Gymnasium, die Marienschule Opladen, die VHS Leverkusen und das Junge Theater eingeladen hatten.
Im Rahmen der Aktionswochen „Zukunft braucht Erinnerung", einer Initiative der Finkelstein-Stiftung, der Caritas und der VHS, trafen sechs Schülerinnen und Schüler der beiden weiterführenden Schulen auf die ehemalige Bundesbildungsministerin und heutige Vorsitzende des Beirats der Finkelstein-Stiftung, Annette Schavan. Moderiert wurde die Veranstaltung von Günter Hinken, Leiter der VHS Leverkusen, und Randa Telmoudi, Lehrerin am Landrat-Lucas-Gymnasium. Gastgeber waren Michael Schmidt, Direktor des Jungen Theaters, und Klemens Büsch, Lehrer am Landrat-Lucas-Gymnasium.
Erinnerung braucht Präsenz – und neue Wege
„Eine Gedenkstätte ist kein Museum. Man steht da, wo Es passiert ist“, mit diesem treffenden Hinweis schilderte eine Schülerin die bewegenden Fahrten nach München/ Dachau und zur Kölner Synagoge. Dies löste eine Diskussion über die Frage aus, ob Gedenkstättenfahrten zur Pflicht für alle Schüler:innen werden sollten – ein Thema, das die Meinungen teilte.
Auch das Spannungsverhältnis zwischen traditionellen und digitalen Medien wurde kontrovers diskutiert. Schavan fragte nach Lesegewohnheiten. Das Buch, so die Jugendlichen, sei nicht mehr das Medium ihrer Generation. Instagram, YouTube, TikTok seien heute die Plattformen, über die sie sich informieren, auf denen sie auch Zeugen von Desinformation, Fake News und Hasskommentaren werden. Hier müsse man den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus ansetzen.
Es wurde auch ein besonders sensibles Thema angesprochen: die Schwierigkeit, historische Verantwortung in einer diversen Schülerschaft zu vermitteln. Schavan wies auf den Umstand hin, dass Schüler:innen mit familiärer Migrationsgeschichte den Holocaust nicht als Teil ihrer eigenen Erinnerung betrachten – und sich deshalb weniger angesprochen fühlen von der Forderung nach historischer Verantwortung. Hinzu komme, dass aktuelle politische Konflikte, insbesondere im Nahen Osten, antisraelische Narrative verstärken, die auch in Schulhöfen und sozialen Netzwerken spürbar seien. Eine Schülerin sagte offen: „Manche fühlen sich nicht zuständig – oder übernehmen unkritisch Meinungen, die sie irgendwo aufschnappen.“
Annette Schavan stellte Fragen, hörte zu, widersprach auch. Sie betonte, wie wichtig es sei, aus der eigenen sozialen Bubble herauszutreten, um auch andere Schichten der Gesellschaft zu erreichen. „Wir sind ja nur die Interessierten“, pflichtet eine Schülerin ihr selbstkritisch bei – und sprach damit eine zentrale Herausforderung vieler Bildungsprojekte an.
Verantwortung in der Gegenwart
In einem besonders bewegenden Moment berichtete eine Schülerin vom täglichen Erleben von Rassismus – und davon, wie erschöpfend der ständige Kampf sei: „Das macht einfach so müde.“
Unterstützung bietet da das Jahresprojekt „Nie wieder – Now!“, dem alle anwesenden Schüler:innen angehören. Ziel ist es, Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung aktiv entgegenzutreten. Das Projekt ist eine Kooperation zwischen dem Landrat-Lucas-Gymnasium und der Marienschule Opladen und geht nun in sein zweites Jahr. Es entstand aus der gemeinsamen Arbeit an einem jährlichen Gedenkabend zur Reichspogromnacht – inzwischen engagieren sich rund 20 Jugendliche mit Veranstaltungen, Exkursionen und kreativen Aktionen gegen das Vergessen.
Das Projekt „Nie wieder – Now!“ soll wachsen. Die Leitungsgruppe – bestehend aus Katharina Schönberg, Randa Telmoudi, Klemens Büsch, Julian von Hessert und Oliver Frücht – arbeitet bereits an neuen Formaten, um mehr Schüler:innen zu erreichen und langfristiger zu wirken.
Kontroverse und Aufbruch
Am Ende der Veranstaltung stand ein starkes Signal: Jugendliche sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sie brauchen dafür Räume, in denen sie gehört werden – wie an diesem Nachmittag im Jungen Theater.